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Missbrauch Dunkelziffer


Man schaut weg auch heute noch gilt Missbrauch als eines der Delikte, die am seltensten gemeldet werden und am schlechtesten kontrolliert sind. Spektakuläre Schicksale wie das der Österreicherin Elisabeth Fritzl im Kellerverlies ihres Vaters spülen zwar das Thema in die Öffentlichkeit. Aber in Wirklichkeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht viel geändert - nach wie vor ist die Familie ein Ort, an dem ungestört solche Verbrechen geschehen, weggeschaut, verdrängt, vertuscht wird. In Deutschland werden laut Statistik des Bundeskriminalamts jedes Jahr rund 13 000 Mädchen und Jungen im Alter von einem bis 14 Jahren sexuell misshandelt, vergewaltigt, ausgebeutet für perverse Sexpraktiken und Kinderpornografie. Das sind die angezeigten Taten. Tatsächlich gehen Experten aber von jährlich 160.000 bis 240.000 Opfern aus. Diese Zahlen stammen aus der sogenannten Dunkelfeldforschung, für die auch Repräsentativbefragungen von Erwachsenen zu ihrer Kindheit gemacht werden.

Während Schläge und Vernachlässigung häufiger in sozial schwachen Familien geschehen, finden sexuelle Übergriffe auf Kinder in allen sozialen Schichten statt. Auch Ärzte, Unternehmer, Polizisten und Lehrer sind unter den Tätern, nicht selten gefüttert mit "Anregungen" aus der (Kinder-) Pornoindustrie. Alarmierender Erkenntnisstand der Wissenschaft ist, dass die Hemmschwelle für sexuellen Kindesmissbrauch durch regelmäßigen Konsum von kinderpornografischem Material im Internet schrittweise herabgesenkt wird. Irgendwann reichen die Bilder vielleicht nicht mehr, dann will der Täter selbst erleben, wie es ist, eine Vierjährige zu vergewaltigen. "In den vergangenen zehn Jahren hatten wir immer jüngere Opfer, selbst Babys werden brutal missbraucht. Die Täter sind immer öfter Frauen, und unter den Opfern finden sich vermehrt Jungen", sagt Vera Falck von "Dunkelziffer", einem Hamburger Verein, der sich seit Jahren um sexuell missbrauchte Kinder und Jugendliche kümmert. 1000 Notrufe gehen jährlich allein bei "Dunkelziffer" ein. Das sind drei pro Tag.

Die meisten der Kinderschänder haben keine sexuelle Präferenz ausschließlich für Kinder: Der Anteil der Pädophilen wird auf 20 Prozent geschätzt. In rund 80 Prozent der Missbrauchsfälle stammen die Täter aus dem Familien- und Freundeskreis oder dem näheren sozialen Umfeld.

Lückenhafte Erinnerungen

Eine Stadt in Süddeutschland, 1963. Ein kleines Mädchen liegt nackt auf einem Küchentisch in einer Villa am See. Am Fußende ist ihre Pflegemutter, an den Seiten und am Kopfende stehen ihre drei erwachsenen Stiefbrüder. Auf dem Tisch: ein Kochlöffel und ein Glas Wasser, aus dem sie trinken muss. Später wacht sie im Kohlenkeller auf. Immer noch nackt, ihr Körper geschunden, voller Hämatome.

Hamburg, 2008. Susanne*, heute 53, sitzt am Tisch bei "Dunkelziffer". Vor ihr liegt ein abgegriffenes Schulheft, in das sie vor Jahren mit Kuli die schreckliche Szene aus der Küche gezeichnet hat und das sie seither mit sich herumträgt. Wie auch den Zettel, auf dem sie 1999 notiert hat: "Blaue Flecken, wo sind sie her? Ich kann niemand fragen; ich muss wieder trinken, versinken, Taumel, Schmerz."

Die Erinnerung an das, was zwischen Küche und Keller passiert ist, lässt Susannes Gehirn bis heute, 45 Jahre später, nicht zu. Die restlichen Puzzleteile fehlen. Das ist nicht ungewöhnlich: Manchmal bleibt bei Opfern diese Lücke, weil die Erinnerung für die Seele zu belastend wäre. Dafür sind die Wahnsinnsbilder aus Küche und Keller ständig präsent: "Es ist wie pausenloses Kopfkino. Küche - Keller - Küche - Keller … Diese Bilder beherrschen mein Leben", sagt sie. Die Folgen ihrer schweren Traumatisierung bringen sie immer wieder in die Psychiatrie. Seit ein paar Jahren kann sie nicht mehr als Innenausstatterin arbeiten. Und damit hat die Vereinsamung noch zugenommen.

Unvermittelt schiebt Susanne die Flügelärmel ihrer weißen Bluse hoch. Schwarze Fäden mit Knoten hängen in langen Reihen auf den Oberarmen. Sie ist genäht worden von den Ärzten. "Ich habe wieder geritzt", sagt sie. "Ich zerstöre mich inzwischen selbst."

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